Zähne zeigen

Zähne zeigen

Lob ist nicht einfach nur gut, es gibt auch eine dunkle Seite.

Viele fürchten Zahnärzte, mir machen sie nichts aus. Aus einem simplen Grund. Ich werde dort gelobt. Ich putze gerne Zähne. Während Gen Z sich mit ihrer Haut beschäftigt und mit zig Produkte eine ganze sogenannte Routine erstellt, putze ich eben gerne Zähne. Es ist simpel. Es ist effektiv. Meine Zähne sind daher meistens in Ordnung. Auf dem Zahnartstuhl freue ich mich über das Lob besonders, weil Zahnhygiene nichts ist, worüber ich mir viel Gedanken mache – es ist einfach so. Mühelos. Und nicht alles ist mühelos in meinem Leben.

Als ich im Wartezimmer des Zahnarztes sitze, gucke ich mich um. Ich bin das erste Mal hier. Es gibt fast keine Unterschiede zu einem deutschen Wartezimmer. Gewisse Zahnpaste und Zahnbürsten werden angepriesen und verschiedene Poster für Vorsorgeuntersuchungen sind ausgehängt. Es ist alles sauber, neu und modern. Dudelmusik läuft. Ein Trinkwasserspender steht in der Ecke. Es ist Hochsommer und der Trinkwasserspender hochwillkommen. Ich sehe einen Kunden, dem die neuen digitalen Funktionen erklärt werden. Man kann jetzt mit Messenger Termine buchen oder absagen. Der Kunde absolviert brav alle Schritte, die ihm die Arzthelferin zeigt. Dann rechnet sie ihn ab. In Japan gibt es Eigenbeteiligung. Die Arzthelferin überreicht dem Patienten außerdem ein buntes Utensil, das fast wie eine Zahnbürste aussieht. Aber nur fast.

Weiße, gerade Zähne sind anziehend. Daher schaut man sprichwörtlich einem geschenkten Gaul nicht ins Maul. Es ist ja ein Geschenk und das muss nicht sexy sein. Egal, ob der Gaul faule Zähne hat oder nur gelbe, er war ja schließlich umsonst. Das ist recht pragmatisch gedacht.

Aber in Japan ist das oft anders. Früher haben sich Geishas, um schön zu sein, die Zähne schwarz gefärbt, nur um ein Beispiel zu nennen. Es kann so aussehen, als hätte man schwarze Tinte getrunken – oder überhaupt keine Zähne. Vielleicht war ein makellos leer aussehendes Gebiss besser als der eigentliche Zustand der Zähne? Lieber gleichmäßig schwarz als fleckig gelb? Oder sogar marode und halb ausgefallen? Wenn man dann zu den schwarzen Zähnen Komplimente erhält, sollte man lieber demütig antworten. Wenn ich Lob vom Zahnarzt erhalte, bin ich natürlich japanisch verbindlich schüchtern. “Ach, das ist doch nichts” oder “Das habe ich Ihnen zu verdanken, Frau Zahnärztin!”

Die technische Assistentin kommt und bittet mich herein. Wir gehen in das Behandlungszimmer zu einem von den mit Stellwänden abgetrennten Zahnarztstühlen.

Lob und Anerkennung sind in Japan, wenn man dem Knigge folgen will, am Besten herunterzuspielen. Es geht aber auch ein wenig moderner. Die aufgeklärte Gesellschaft in Tokyo kommt auch mit einem schlichten Danke aus. Und in Osaka antworten sie vielleicht eher mit etwas schlagfertigem oder lustigem. Wie dem auch sei: viele japanische Sprichwörter, die sich thematisch um den Umgang mit Lob drehen, reflektieren die japanische Kultur der Bescheidenheit – Lob wird nicht immer offen gesucht oder angenommen, sondern eher zurückhaltend verarbeitet. Denn Lob kostet. Das Sprichwort tada yori takai mono heißt übersetzt: Nichts ist so teuer wie etwas, das man umsonst bekommen hat. Denn jedes Geschenk in Japan fordert ein Gegengeschenk, es sind Verpflichtungen, die unerwartet aufwändig sind.

In Japan würde man also beim Gaul und seinem schlechten Gebiss wohl eher denken: Egal, wie das Geschenk aussieht, ich bin zur Dankbarkeit verpflichtet. Egal, wie schlecht das Geschenk ist, ich zeige Dankbarkeit und schaue ihm lieber nicht ins Maul. Das würde ja den Schenkenden degradieren. Und ob die Zähne nun in Ordnung sind oder nicht, ich muss etwas im Gegenzug zurück schenken. So ist das auch mit meinem Lob. Es ist ein Geschenk, ich bin dankbar und suche eine Gelegenheit, auch meinen Zahnarzt zu loben.

Um mich auf den Zahnarztstuhl setzen zu dürfen, muss ich erstmal meine Schuhe ausziehen. Also Schuhe aus und umständlich auf die Seite gestellt. Es ist Sommer und ich muss mich barfuß hinsetzen. Ich bemerke auch, dass die großen Papierstreifen, die ich aus Deutschland für den Fußbereich kenne, fehlen. Die hätte ich jetzt trotzdem gerne. Dann erstmal Spülen bitte. Die Assistentin erklärt mir den Ablauf. Zuerst ginge es zum Röntgen, denn japanische Ärzte lieben Röntgen-Bilder. Alles wird geröntgt, was nur geht. Dann würde der Arzt einen Blick in meinen Mund werfen und dann würde die von mir bestellte Zahnreinigung durchgeführt. Damit ist die Erklärung beendet.

Also Schuhe wieder an und zum Röntgen. Kinn auflegen, stillhalten, fertig. Zurück zum Behandlungsstuhl, Schuhe wieder aus und setzen. Bitte Spülen. Der Arzt kommt, begrüßt mich kurz und wirft umstandslos einen Blick in meinen Mund. Er gibt der Assistentin unverständliches Kauderwelsch durch, ich nehme an, es sind die Zahlenreihen, bei denen ich mich auch in Deutschland immer frage, was sie genau bedeuten. Sie fühlen sich geheimnisvoll an, wie Polizeicodes, hinter denen grauenhafte Vorfälle, aber auch alltägliche Missgeschicke stecken können. Meine Zähne haben jedenfalls nicht viele Codes. Sie stellen wohl nicht so viel an.
Wir machen noch einen Test mit dieser Farbe, sagt die Assistentin auf Japanisch. Aber erstmal Spülen bitte. Danach trägt sie die Farbe auf. Dann nochmal Spülen. Sie gibt mir einen Handspiegel, damit ich die Winkel gut einsehen kann. Ich schaue mich also selbst mit den gefärbten Zähnen an – und muss lachen.

Als ich diesen Test das erste Mal als Kind machte, waren meine Zähne danach blutrot. Es sah bestialisch aus, als hätte ich ein Tier gejagt und an Ort und Stelle meine Zähne in dem noch frischen Fleisch versenkt. Vielleicht wollte man damals die Kinder mit dem Schockmoment erziehen – und ich erinnerte mich ja noch gut daran, es tat also seine Wirkung. Aber vor meinem Augen waren Zähne, die hie und da in einem hauchzarten Rosa erstrahlten, als hätte ich sie mit Kirschblüten eingerieben.

“Das ist ja rosa!”, entfährt es mir. Die Assistentin blickt mich verunsichert an, sie versteht das Problem nicht. Oder warum ich plötzlich lache. Mache ich mich lustig? “Wissen Sie, in Deutschland ist das tiefrot, es sieht bestialisch aus”, versuche ich sie zu beschwichtigen. “Das ist ja nett, dieses Rosa!”, lobe ich ihre Farbwahl. Ein jämmerlicher Versuch. Die Assistentin lacht mit mir, wahrscheinlich einfach nur aus Erleichterung, dass sie dazu nichts weiter sagen muss – und aus Höflichkeit. Dann geht sie weiter zum Protokoll über und erklärt mir, warum manche Stellen rosa sind und wie ich das durch richtiges Zähneputzen vorbeugen kann. Ich würde das alles ja ganz richtig machen. Ich sage leise danke.

Mit dem Arzt schaue ich die Röntgenbilder an, er ist zufrieden. Er lobt wiederum meine Zähne und wie gut ich Zähneputzen könne. Ob das in Deutschland bei allen so sei, fragt er fast erstaunt. Ich sage vorsichtig, dass mir Zahnärzte schon unzählige Male das richtige Zähneputzen erklärt haben. Er schaut mich ehrfürchtig an.

Kommen Sie bitte in einem halben Jahr wieder, sagt der Zahnarzt. Ich bin etwas irritiert, meine Zähne seien doch so gut? Warum gleich in einem halben Jahr? Der Zahnarzt blickt mich an: Damit es auch so bleibt, sagt er und verschwindet mit einem kurzen Gruß.

Na gut, denke ich. Dann kommt die Zahnarzthelferin mit einem Körbchen. Es ist so ein Umhänge-Körbchen, mit dem Verkäufer früher durch Kinosäle gingen und Zigaretten und Getränke verkauften.

“Sie hatten einige wenige rosa Stellen. Für diese empfehlen wir diese Spezial-Zahnbürsten”, sie zeigt mir eine Zahnbürste mit einem sehr kleinen runden Kopf. Es war das bunte Utensil, das auch der Patient vorhin bei der Abrechnung gekauft hatte. “Die Zahnbürste ist speziell für die Zahnzwischenräume, ich empfehle sie wirklich sehr.” Eine kleine Pause. “Ihr Mann hat auch eine gekauft.” Er war einige Tage vor mir zum Zahnarzt gegangen. Ich entschließe mich, eine zu nehmen.

“Und dann haben wir noch diese Zahnpaste, die wir sehr empfehlen können.” Was sie danach sagt, kann ich nicht verstehen. Zuviel Fachwörter oder es ist irgendein Verkaufsgewäsch. Ich lehne ab und dann gleich nochmal ab, als sie mir auch noch eine normale Zahnbürste verkaufen will.
Es gibt noch ein geflügeltes Wort. Homegoroshi. Es heißt übersetzt “zu Tode loben”. Man wird durch überschwängliches Loben gekillt. Oder es kann auch eine Form der versteckten Manipulation sein.

Foto von Atikah Akhtar auf Unsplash


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